Improtheater: Applaus für die Wut

Auf einer Bühne stehen und nicht wissen, was jetzt gerade passiert, und erst recht nicht, was ich in fünf Sekunden tun werde. Ein Albtraum! Improvisationstheater als angewandte Hirnforschung und Weg zu größerer Freiheit.
 
Genau genommen wissen wir nie, was im nächsten Moment passiert. Selbst ein perfekt organisiertes Leben kann von einer Sekunde auf die nächste durch einen Unfall, eine Erbschaft, eine Begegnung oder Trennung oder irgendwas dazwischen komplett aus der Bahn geworfen werden. Insofern sind äußere Sicherheit und Kontrolle immer eine Illusion.
 

Gewohnheiten geben Sicherheit

Es gibt Menschen, die bereits in Stress geraten, wenn auf der Fahrstrecke zur Arbeit plötzlich eine Baustelle steht und sie unvorbereitet einen neuen Weg finden müssen. Ich war so ein Mensch. Unerwartetes hat mich in Angst und Schrecken versetzt. Meine Reaktionen nicht gründlich durchdenken und planen zu können, ein Albtraum.
 
Als Hirnforschungsfan weiß ich inzwischen, dass Gewohnheiten durchaus ihren Sinn haben. Automatisierte Handlungen wie Zähneputzen oder Autofahren sparen Energie und dadurch hat man mehr Ressourcen zur Verfügung, wenn dann doch mal ein Säbelzahntiger angreift. Zu viele Gewohnheiten geben jedoch nicht mehr Sicherheit, sondern schüren eher die Angst vor Unbekanntem. Zu viele Gewohnheiten machen das eigene Leben, finde ich, unnötig eng und unnötig eintönig.

Löwenbändigerinnen und Seiltänzer

Unbekanntes fordert und fördert unsere Kreativität, macht uns wach und flexibel, sorgt für neue Vernetzungen im Oberstübchen und ist damit sogar aktive Demenzprävention. Im Alltag ist die Suche nach Neuem, Unbekanntem, nach dem nächsten Kick jedoch oft gar nicht so leicht. Noch ein Tanz- oder Trommelkurs, Kitesurfen, Bungee-Jumping, Jakobsweg oder Vipassana-Retreat, Fallschirmspringen oder irgendwas im Himalaya. Nicht jede*r will Löwenbändigerin oder Seiltänzer werden, um an etwas anderem als Demenz zu sterben.
 
Wir werden sterben, soviel immerhin ist sicher. Die Frage ist: was machen wir davor?
 
Seit ich mich auf das weite Feld der Hirnforschung begeben habe, verstehe ich immer besser, unter welchen Bedingungen Menschen wie ich – nur mich kenne ich schließlich von innen und das ist schon unübersichtlich genug – gut gedeihen können. Die kürzestmögliche Antwort: Spielerische Bewegung, gemeinsam mit anderen.
 

Bühne ist was für die anderen

Im letzten Sommer habe ich etwas entdeckt, das mir seitdem völlig neue Welten erschließt: Improvisationstheater. Ich wusste, dass es das gibt, nicht, was es ist, und es hat mich bis dahin nie interessiert. Theater und Bühne waren immer etwas für die anderen, die Bildungsbürgerlichen, die Kulturbeflissenen, die Kreativen und Besonderen. Nicht für ein ungelenkes Arbeiterkind wie mich, das früher schon froh war, wenn es im Musikunterricht und beim Sport einmal nicht ausgelacht wurde. Ich hatte nie den Drang auf einer Bühne zu stehen und ein Publikum von meinen Qualitäten überzeugen zu wollen. Womit auch?
 
Seit dem letzten Sommer spiele ich also jede Woche Improtheater, in einer sehr tollen, für jede*n offenen Kieler Gruppe, die ein junger Theaterpädagoge vor zwei Jahren ins Leben gerufen hat. Großen Spaß hat es von Anfang an gemacht. Und im Laufe der Zeit wurde mir immer klarer, was der Clou an der Sache ist: Improtheater ist angewandte Hirnforschung in Reinkultur.

Replay und Switch beim Kartoffelschälen

Da es um Improvisation und nicht wie beim „normalen“ Theater um geschriebene Stücke geht, heißen die wöchentlichen Treffen nicht Proben, sondern Training. Es gibt keine Requisiten, Räume und Gegenstände werden pantomimisch dargestellt. Wir spielen „Kurzformen“, also viele verschiedene Spiele, die aus kleinen Szenen von wenigen Minuten bestehen. Ein typisches Spiel ist „Gefühlsreplay“. Zwei oder drei Spieler*innen spielen eine beliebige neutrale Szene und danach wird dieselbe Szene mit unterschiedlichen Gefühlen wiederholt.
 
Sowohl das Thema der neutralen Szene als auch die verschiedenen Gefühle gibt das Publikum vor. Dann wird also beispielsweise zu dritt der Garten zunächst neutral umgegraben und danach von einer Spielerin euphorisch, vom zweiten Spieler gelangweilt und von der dritten Person wütend. Ähnlich funktioniert das Genre-Replay. Kartoffelschälen neutral, als Endzeit-Epos, als Gameshow und als Heimatfilm. Gucktipp!
 

Kontrollverlust auf offener Bühne

Und noch ein großartiges Beispiel von den Springmäusen, diesmal als Genre-Switch (ab Minute 18), das heißt, die Szene wird nicht wiederholt, sondern immer weitergespielt und zwischendurch wechselt das Genre von Western zu Actionfilm zu Bollywood usw.. Natürlich entscheidet auch hier das Publikum über das Thema und die Genres.
 
Hätte mich vor drei, vier Jahren jemand gedrängt so etwas auszuprobieren und mich damit auch noch auf eine Bühne zu stellen, hätte ich die Polizei gerufen. Komplett undenkbar, vollkommen unvorstellbar. Niemals. Nicht in diesem Leben. Nicht zu wissen, was mich erwartet, keine Ahnung zu haben, was ich in fünf Sekunden tun werde – und dabei auch noch beleuchtet und beobachtet zu werden. Ein Albtraum von Unsicherheit und Kontrollverlust.

Nur ein Spiel

Vor ein paar Tagen war es tatsächlich soweit. Zehn aus unserer Impro-Gruppe sind zum ersten Mal aufgetreten. Für einige war es, wie für mich, das erste Mal auf einer Bühne vor Publikum überhaupt. Okay, es war nur eine kleine und geschlossene Veranstaltung, das wohlwollende Publikum bestand aus 35 Menschen aus unseren Freundes- und Familienkreisen. Die objektive Fallhöhe war also überschaubar. Mein hämisches Hirn hat mir natürlich trotzdem vorher alle möglichen Katastrophenszenarien präsentiert.
 
Doch selbst bei 350 völlig fremden Menschen kann in Wahrheit nichts Schlimmes passieren. Es ist nur ein Spiel. Ein Spiel, bei dem „heiter scheitern“ elementarer Teil der „Regeln“ ist – Fehler zu machen ist nicht nur nicht verpönt, sondern gehört dazu. Ein Spiel bei dem ich mit sehr großem Spaß jede Woche trainiere, den Kontrollverlust zunächst überhaupt auszuhalten, um dann Mäuseschrittchen für Mäuseschrittchen immer tiefer zu begreifen, dass hinter der Kontrolle die Freiheit beginnt. Das regelmäßig zu üben macht innerlich immer sicherer, egal wie die äußeren Umstände gerade sind. In Zeiten wie diesen eine sehr wertvolle Ressource.
 

Mit Sinn ohne Verstand

Am schönsten werden die Szenen, in denen der Verstand wirklich keine Zeit hat, sich irgendwas vermeintlich Originelles auszudenken, sondern ein anderer Teil – der Körper, die Intuition, das Zusammenspiel mit den anderen – das Heft des Handelns in die Hand nimmt. Zum Training und zum Handwerkszeug von Improtheater gehört zu lernen, das eigene Ego immer leichter loszulassen und immer genauer mitzukriegen, zu spüren, was das Gegenüber tut und was als nächstes passt, damit eine Szene rund wird. Sich wirklich auf die Situation in diesem Augenblick einzulassen.
 
Das ist nicht nur angewandte Hirnforschung, sondern für mich zudem Verhaltenstherapie, Zen-Buddhismus und Lifecoaching in einem. Den größten Spaß bei unserem Auftritt hat mir das Spiel gemacht, bei dem es um ein Date ging und meine Rolle „kindliche Wut“ verkörperte. Vor aller Augen wie Rumpelstilzchen mit dem Fuß aufstampfen, toben und schimpfen – und es wird nicht geächtet, sondern sogar beklatscht. Heilsam.

„Das klingt nach einem Lied“

Das alles ist Improvisationstheater und hätte ich das früher gewusst, hätte ich mir manchen Kampf gegen Windmühlen und Säbelzahntiger sparen können. Das mit dem nicht vorhandenen Bühnendrang stimmt nicht ganz. Als Jugendliche fand ich die Vorstellung reizvoll, singend auf einer Bühne bejubelt zu werden. Wie Adele. Davon war ich allerdings so weit entfernt wie die Milchstraße vom Andromedanebel und es war nie wirklich ein Thema.
 
Beim Improtheater gibt es auch Musik. Manche Gruppen improvisieren sogar ganze Musicals. Eine mögliche Vorgabe durch die Moderation oder das Publikum, am besten völlig unerwartet, mitten reingegrätscht in eine Szene lautet: „Das klingt nach einem Lied“. Dann gilt es die Szene singend sinnvoll weiterzuspielen. Ein Albtraum!
Aber wer weiß. 😉

2 Meinungen zu “Improtheater: Applaus für die Wut

  1. Sanja sagt:

    Vielen Dank für diesen wertvollen Impuls, liebe Barbara! Das macht direkt Lust, die Bühne des Lebens noch kreativer zu bespielen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert